EMPRISE

Ein Modellierungs- und Optimierungsframework für robuste Ausbauentscheidungen mittels stochastischer Programmierung

Akteure im Energiesystem sind mit einer Vielzahl an Unsicherheiten konfrontiert. Das mittlerweile breit angenommene Paradigma der Klimaneutralität bringt in diesem Kontext neue Komplexität und neue Unübersichtlichkeiten mit sich. Eine Energiewende hin zur Klimaneutralität stellt entscheidungstragende Instanzen auf übergeordneter und struktureller Ebene vor neue Herausforderungen. Zur Unterstützung und Findung robuster Entscheidungen für Investitions- und Betriebsprobleme müssen quantitative Entscheidungsmodelle daher zunehmend in der Lage sein, operative und strategische Unsicherheiten zu berücksichtigen.

Zwei- und mehrstufig stochastische Programmieransätze können hier einen entscheiden-den Beitrag leisten, insbesondere gegenüber traditionell deterministischen Ansätzen. Bei der Planung von Transformationspfaden hin zu treibhausgasneutralen Energiesystemen können diese relevante Unsicherheitsinformationen wie bspw. politisch gesetzte Energie- und Klimaziele (CO2-Preise oder -Minderungsziele), Investitions- und -Betriebskostenannahmen (Wind und PV), oder Konsumentenverhalten (flexible vs. unflexibles Ladeverhalten von Elektrofahrzeugen) endogen berücksichtigen und somit Risiken von „strandet assets“ reduzieren.

Planung von Energiesystemen unter Unsicherheit

Sowohl für die angewandte Forschung im Bereich der Energiesystemanalyse als auch für die Energiewirtschaft sind quantitative Analysemodelle zentrale Werkzeuge zur Unterstützung von Investitions- und Systembetriebsentscheidungen diverser Akteure. Modellierungs- und Optimierungs-Frameworks, insbesondere auf Basis mathematischer Programmierung, sind wesentliche Bestandteile zur Bewältigung der zugrundeliegenden Planungsprobleme.

Adäquate Analysemodelle zur (quantitativen) Entscheidungsunterstützung bei der Entwicklung und Transformation in Energiesystemen müssen eine Vielzahl von Anforderungen erfüllen, um eine zuverlässige Entscheidungshilfe für die Entwicklung wirtschaftlich effizienter und klimaneutraler Energiemärkte und -infrastrukturen zu liefern. Die damit verbundenen Herausforderungen führen zu großen und komplexen Systemen, die bei der Planung künftiger Investitionen eine größere betriebliche und verwaltungstechnische Flexibilität als bisher erfordern. Entscheidend ist daher, wie statische und dynamische Details der Systemkomponenten und ihrer sektorenübergreifenden Interaktion in den Analysen dargestellt werden können. Als notwendige Konsequenz nehmen der in den Modellierungs- und Optimierungs-Frameworks repräsentierte Systemumfang („scope“) und die Systemgranularität („granularity“) in deren Komplexität zwangsläufig zu

Das Hauptziel der stochastischen Programmierung ist es, optimale Entscheidungen in Problemen zu finden, die unsichere Eingangsparameter beinhalten, wobei ein sequentieller Prozess durch den Wechsel zwischen zu treffenden Entscheidungen und der Offenbarung unsicherer Informationen definiert ist. Stochastische Programmierungsansätze können zudem mit unterschiedlichen Risikomaßen genutzt werden, d. h. in der Regel ein Erwartungswertansatz oder der „Conditional Value at Risk“ (CVaR).

Bei den stochastischen Optimierungsansätzen wird in der Regel zwischen zwei- und mehrstufigen Modellen unterschieden. Hierbei ist zu beachten, dass die Anzahl der Stufen von der Entscheidungsdynamik abhängt und nicht zwingend von der Anzahl der betrachteten Zeitperioden. Stochastische Programmierungsansätze mit Möglichkeit zur Kompensation („recourse“) können die Kompensationsabfolge (Entscheidung → Offenbarung von Unsicherheit → Reaktion bzw. Kompensation) demnach entweder einmalig (zweistufig) oder mehrfach (mehrstufig) beinhalten. Alle Entscheidungsmodelle auf Basis zwei- oder mehrstufig stochastischer Ansätze erfordern die Wahl der Kompensationsentscheidungen („recourse decisions“), d. h. die Variablendeklaration von „here-and-now“-Entscheidungen (erste Stufe) und „wait-and-see“-Entscheidungen (zweite oder weitere Stufe). Während die Entscheidungen der ersten Stufe vor der Offenbarung der Unsicherheiten getätigt werden müssen, können sich die Entscheidungen der nächsten Stufe ändern nachdem die unsicheren Parameter bekannt werden.

Methodik

Der neu entwickelte Modellierungs- und Optimierungsansatz verfolgt die Ermittlung robuster Transformationspfade zu einem klimaneutralen Zielsystem unter Berücksichtigung strategischer und operativer Unsicherheiten. Hieraus leiten sich neben den bekannten Herausforderungen von sektorenintegrierten Energiesystemen zwei zentrale Aufgaben für die Entwicklung des Modellierungs- und Optimierungsansatzes ab:

  • Konsistente Ansätze für die Berücksichtigung mehrperiodiger Kapazitätsaus- und rückbauplanungsentscheidungen für das betrachtete Energiesystem,
  • Ansätze zur flexiblen Berücksichtigung relevanter strategischer und operativer Unsicherheiten sowie schnell individualisierbarer Entscheidungsdynamiken.

Zur flexiblen Berücksichtigung relevanter strategischer und operativer Unsicherheiten sowie schnell individualisierbarer Entscheidungsdynamiken erlaubt der neu entwickelte Modellierungsansatz die individualisierte und automatische Erzeugung von Szenariobäumen zur Analyse mehrstufig stochastischer Entscheidungsprobleme. Oben wird ein möglicher mehrstufig stochastischer Szenariobaumaufbau für ein mehrperiodiges Entscheidungsproblem unter Unsicherheit gezeigt. Die Repräsentation von drei Planungsperioden mit sich nacheinander offenbarenden strategischen und operativen Unsicherheiten erfordert im gezeigten Beispiel die Berücksichtigung von drei Entscheidungsstufen, die mit den gezeigten zwei operativen Unsicherheitsszenarien (z. B. meteorologische Referenzjahre) und zwei strategischen Unsicherheitsszenarien (z. B. CO2-Preisentwicklungspfade) zu insgesamt 32 Szenariopfaden im Szenariobaum führen.

Zielfunktion des mehrstufig stochastischen Planungsmodells im EMPRISE-Framework:

Aufgrund der Struktur mehrstufig stochastischer Szenariobäume wächst die Problemgröße expontentiell mit der Anzahl an Entscheidungsstufen. Daher wird die Lösung großer mehrstufig stochastischer Probleminstanzen schnell nicht mehr praktisch realisierbar. Die Probleme werden zu groß, um sie in ihrer monolithischen „extensive form“ lösen zu können. Neben zweistufig stochastischen Approximationen auf Basis eines rollierenden Optimierungszeithorizonts gibt es zwei wesentliche Dekompositionsansätze:

  • Szenario-Dekomposition („scenario decomposition“): ermöglicht die Nutzung von „Progressive Hedging“-Verfahren;
  • Stufenweise Dekomposition („stagewise decomposition“): ermöglicht die Nutzung von „Stochastic Dual Dynamic Programming“-Verfahren oder „Nested Benders“-Verfahren.

Für das EMPRISE-Framework wurde für die Nutzung eines Progressive-Hedging-Algorithmus auf Basis der Szenariodekomposition implementiert.

Der neue methodische Ansatz ist als quelloffene Software entwickelt und in Python/Pyomo/PySP implementiert worden. Das hierbei entstande „Environment for Modelling and Planning Robust Investments in Sector-integrated Energy sys-tems (EMPRISE)“ kann in seinem jeweils aktuellen Stand unter folgendem GitHub-Repository abgerufen und unter der „GPL-3.0 License“ genutzt werden: https://github.com/philipphaertel/EMPRISE

Exemplarische Fallstudie

Zur Veranschaulichung der Einsatzmöglichkeiten des neu entwickelten EMPRISE-Frameworks umfasst die im Projekt untersuchte Fallstudie drei wichtige Marktgebiete im europäischen Energiesystem. Diese plant deren Transformation von 2025 bis 2045 in drei Planungsperioden, die jeweils zehn Jahre repräsentieren. Der beispielhafte Aufbau eines mehrstufig stochastischen Szenariobaums für die simultane Berücksichtigung von zwei operativen (OpSc) Unsicherheitsszenarien für die meteorologischen Jahre 2010 und 2012 sowie zwei strategischen (StrSc) Unsicherheitsszenarien für die CO2-Preisentwicklung im System in zwei Entwicklungspfaden („High“ und „Low“) mit unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeiten ist nachfolgend dargestellt:

 

EMPRISE Case Study

Die Investitionsentscheidungen verdeutlichen beispielhaft, dass der mehrstufig stochastische Ansatz des EMPRISE-Frameworks in der Lage ist, robuste „here-and-now“-Entscheidungen (82 GWel in Entscheidungsstufe 1) zu treffen, die sich von beiden deterministischen Szenarien deutlich unterscheiden. Auch deutlich wird, dass die kumulierten Investitionsentscheidungen in der letzten Stufe signifikant anders sind als die Entscheidungen für die einzeln betrachteten deterministischen Szenariopfade:

EMPRISE Ergebnisse